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Die Ersten hundert Jahre - Aufstieg und Niedergang

In den fünfzig Jahren nach der Gründung der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin am 14. Januar 1845 hatten Lehre und Forschung an der Friedrich-Wilheim-Universität insbesondere durch Heinrich Gustav Magnus, Hermann von Helmholtz, August Adolf Kundt sowie Gustav Robert Kirchhoff einen hohen Stand erreicht. Parallel dazu war Berlin auch ein bedeutender Standort der aufblühenden Elektroindustrie geworden, insbesondere durch das Wirken von Werner von Siemens, auf dessen Anregung 1887 die Physikalisch-Technische Reichsanstalt (PTR) gegründet worden war.

 

Während der zweiten fünfzig Jahre wurde Berlin für die Physik in Deutschland das Zentrum der Lehre und Forschung. Max Planck, Walter Nernst, Emil Warburg, Otto Hahn, Lise Meitner, Walter Bothe, James Franck, Gustav Hertz, Robert Pohl, Max von Laue, Max Born, Eugen Wigner, Erwin Schrödinger, Peter Debye und Werner Heisenberg, um nur die Wichtigsten zu nennen - abgesehen von Emil Warburg, Lise Meitner und Robert Pohl erhielten alle den Nobelpreis -, wirkten hier an der Universität, der Technischen Hochschule oder den staatlichen und industriellen Forschungsinstituten. Auf Anregung von Max Planck, damals Schatzmeister, wurde 1899 die Satzung der Gesellschaft geändert und diese in "Deutsche Physikalische Gesellschaft" (DPG) umbenannt, da sie fast fünfzig Prozent auswärtige Mitglieder hatte. Die Aktivitäten blieben jedoch fast unverändert- die Herausgabe physikalischen Schrifttums, die Beteiligung an den Tagungen der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte (GDNÄ) und insbesondere die regelmäßigen Sitzungen - alle 14 Tage am Freitag in der Berliner Universität. Diese starke Fixierung auf Berlin - bis 1918 waren auch alle Vorsitzenden der DPG Berliner Physiker - erregte bei vielen auswärtigen Mitgliedern Unwillen, und deshalb sah die neue Satzung vom 1. Januar 1920 die Gründung von Gauvereinen vor. Nach München, Wien, Hessen und Niedersachsen wurde am 1. Oktober 1921 die Physikalische Gesellschaft zu Berlin e. V. - als Gauverein der DPG - wiedergegründet. Unter ihrer Leitung erfolgten fortan die wichtigen Freitagssitzungen. Mit der 1919 gegründeten Deutschen Gesellschaft für Technische Physik (DGTP) kooperierte sie von Anfang an sehr eng; viele Vortragsveranstaltungen und regionale Tagungen wurden gemeinsam durchgeführt.

Zwei Bilder mögen einen vagen Eindruck von dem wissenschaftlichen Leben im Berlin der zwanziger Jahre vermitteln: Berliner Physiker und Chemiker treffen sich zur Verabschiedung des 1921 nach Göttingen berufenen James Franck - das berühmte "Sofabild" ..

.. und ein Kolloquium ohne Ordinarien, um das junge Physiker Niels Bohr während seines Berliner Besuchs 1920 gebeten hatten, "das bonzenfreie Kolloquium".

Übrigens Robert Pohl, der gerade einen Ruf als Ordinarius nach Göttingen erhalten hatte, also ein "Bonze" geworden war, durfte nicht teilnehmen [1].

Sehr treffend hat Erwin Schrödinger bei der Nobelpreisverleihung 1934 - ein Jahr nach seiner Emigration - diese Zeit geschildert:

"1927 kam ich auf Plancks Lehrstuhl nach Berlin. Zwei große Hochschulen, die Reichsanstalt, das Kaiser-Wilhelm- Institut, das Atomphysikalische Institut und eine Anzahl von Forschungsstätten der Industrie erzeugten damals in Berlin eine Bevölkerungsdichte von Physikern ersten Ranges ohne Beispiel, die in einem gemeinsamen Kolloquium jede Woche zu einem intimen Kongress vereinigt zu sehen, war ein tiefer Eindruck und die Behandlung aller brennenden Tagesfragen (der Physik) vor diesem Forum ein großer Genuß." [2]

Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 bedeutete einen gravierenden Einschnitt bis hin zur völligen Zerstörung dieser Forschungslandschaft. Ihr universeller Machtanspruch und ihr Antisemitismus bedrohte zunehmend die Freiheit der Lehre und Forschung, das galt insbesondere für die jüdischen (im Sinne der nationalsozialistischen Rassenlehre) Kollegen und Studenten, deren Existenz und Leben zunehmend stärker gefährdet wurden. Albert Einstein und Eugen Wigner, die gerade in den USA waren, kamen nicht mehr zurück. Fritz Haber, Erwin Schrödinger, Denis Gabor - alles Nobelpreisträger - gingen nach England, Lise Meitner konnte 1938 über Holland nach Schweden entkommen. Von den vielen Jüngeren seien nur John von Neumann, Leo Szilard, Michael Polany und Herbert Freundlich genannt. Gustav Hertz erhielt 1935 Prüfungsverbot und ging in das Siemens-Forschungsinstitut, Hartmut Kallmann zur AEG. Arnold Berliner (u. a. Gründer der Zeitschrift "Naturwissenschaften") wählte 1942 den Freitod, um der drohenden Deportation zu entgehen [3]. Nur wenige Physiker traten den Verfolgungen und Verunglimpfungen so offen entgegen wie Max von Laue; aber auch Max Planck und Otto Hahn wehrten sich deutlich gegen die Eingriffe der Politik in die Wissenschaft. [4] Nach Beginn der schweren Luftangriffe begann 1943 die systematische Verlagerung von Instituten aus Berlin. Das betraf alle Bereiche: die Universitäten, die PTR, die Kaiser-Wilhelm- Institute sowie die Forschungs- und Entwicklungsabteilungen der Industrie.

 

[1] Wilhelm Westphal: 68 Jahre als Physiker in Berlin. Phys. B1. 28 (1972) 258.

[2] Carl Ramsauer: Berlin und die exakten Naturwissenschaften. Die Naturwissenschaften 38 (1951) 449. (Festvortrag, gehalten am 27. Mai 1951 auf der Internationalen Woche der exakten Naturwissenschaften)

[3] Max von Laue: Arnold Berliner. Die Naturwissenschaften 33 (1946) 258. (Siehe auch: P. P. Ewald: Max von Laue. Biog. Mem. F. R. S. 6 (1960) 147)

[4] siehe auch zum vorstehenden Absatz: Alan D. Beyerchen: Wissenschaftler unter Hitler - Physiker im Dritten Reich. Kiepenheuer und Witsch, Köln 1980.